Forschung
Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge – eine inklusionstheoretische Studie
Seit der sog. „Flüchtlingskrise“ von 2015 debattieren Politik und Öffentlichkeit darüber, wie die Zuwanderung von Flüchtlingen nach Deutschland und deren Integration gestaltet werden kann. Diese Debatte ist von zwei Narrativen geprägt: Von einem rechten Narrativ, das in Zuwanderungen die Gefahr einer kulturellen, religiösen und ethnischen Überfremdung sowie eine ökonomische Überlastung Deutschlands sieht und sich auf die Einheit des Nationalstaates bezieht. Aber auch von einem linken Narrativ, das auf soziale Offenheit als humanitäres Gebot pocht und in Zuwanderungen kulturelle Bereicherungen und ökonomische Chancen sieht. In beiden Debatten wird Zuwanderung und Integration als Herausforderung diskutiert, der mit einer verschärften oder gelockerten Asylgesetzgebung zu begegnen ist. Wie, wo und unter welchen konkreten Bedingungen Flüchtlinge praktisch auf die Gesellschaft treffen und wie sich Integration in der konkreten Praxis vor Ort tatsächlich vollzieht, gerät in dieser Debatte jedoch kaum in den Blick.
An dieser Stelle setzt das Forschungsprojekt „Gesellschaftliche Andockstellen für Flüchtlinge“ an. In Gesprächen mit Expert*innen aus verschiedenen Andockstellen wirft das Projekt einen detaillierten Blick auf die Abläufe, Probleme und Fragen, die entstehen, wenn Flüchtlinge mit Gesellschaft „in Kontakt kommen“. Das Projekt interessiert sich insbesondere für die medizinische Versorgung in Arztpraxen, die Verwaltung in Ämtern und Behörden, die pädagogische Arbeit von Lehrkräften in Schulen, die Zusammenarbeit mit Flüchtlingen in Unternehmen und die künstlerische Arbeit in Theater- und Tanzprojekten.
Wir gehen davon aus: Wenn es Unterschiede gibt, die Flüchtlinge und Autochthone unterscheidbar machen, dann werden diese in der Praxis vor Ort erzeugt – wer oder was Flüchtlinge oder Autochthone sind, ist dann eine empirische, offene Frage, deren Antwort sich von Kontext zu Kontext unterscheidet. Dieser Unterschied wird von uns nicht vorausgesetzt, sondern empirisch erforscht.
Die erkenntnisleitende Intuition unserer Forschung besteht dabei in der soziologischen Einsicht, dass die moderne Gesellschaft gänzlich unterschiedliche soziale Kontexte ausgebildet hat, die Menschen jeweils gerade nicht in allen Facetten ihrer Person adressieren oder als Gesamtperson für relevant halten. Anstatt vollständig und dauerhaft in die Gesellschaft integriert zu sein, sind wir also je nur partiell und temporär in unterschiedliche soziale Kontexte der Gesellschaft eingebunden.
Daraus leiten wir ein multiinkludierendes Modell der Gesellschaft ab, das es erlaubt, die von Kontext zu Kontext unterschiedlichen Inklusionslagen von Flüchtlingen in ihrer Vielschichtigkeit ernst zu nehmen. Unsere Forschung stützt sich auf qualitative Erhebungsverfahren, wie leitfadengestützte Interviews, nicht-teilnehmende Beobachtungen und Dokumentenanalyse.
Laufzeit und Förderung
Das Projekt wird von der DFG gefördert. Es hat eine Laufzeit von 36 Monaten, beginnend im Oktober 2020.